Adventskalender 2020

11. Türchen: Weihnachten im Jahr 1945

Weihnachten wurde in Niederschlesien immer besonders gefeiert. Die Familie Stoppe war nicht vor den Russen geflüchtet, sondern nach vielen furchtbaren Erlebnissen wieder im eigenen Haus gelandet. Der Krieg war vorbei, aber die Lebensbedingungen waren sehr schlecht. Zwar hatte man sich aus der Ernte der nicht abgeernteten Felder einigermaßen versorgt, aber es fehlte an allen Ecken und Enden. In den kleinen Bauernhof gegenüber war eine polnische Familie mit 2 Kindern eingezogen, die man aus Galizien vertrieben hatte. Die Russen beanspruchten das Gebiet für sich. So wurden wir mit Milch und im Hof produziertem Essbarem notdürftig versorgt.

Das Verhältnis zwischen den Familien war gut, weil unsere Muttel ( schlesische Bezeichnung für Mutter) auf dem Hofe bei der Arbeit half und unsere Großmutter sehr gut polnisch und russisch

 

Bereits vor Weihnachten hatten Muttel und Oma für die Kinder der polnischen Familie Pullover mit einem schönen Norwegermuster gestrickt. Der Schnee war wie immer schon früh gefallen und man ging, wie in jedem Jahr, zur Christnacht in die Stadtpfarrkirche. Horst hatte schon seit zwei Jahren von der Empore der Kirche gesungen. so auch dieses Jahr. „Fürchtet nicht ihr guten Leute“ klang es hell und klar durch die riesige Kirche. Alles war wie immer. Es waren auch viele Polen in der Kirche.

Anschließend führten einige Deutsche, auch wie immer, ein altes kurzes Theaterstück auf dem Marktplatz auf mit dem Namen „ Die letzten Bürger Goldbergs“ auf. Nur 7 Einwohner waren nach der Pest im Mittelalter übrig geblieben. Das war besonders eindrucksvoll, weil niemand wusste , wie es mit dem Leben weitergehen würde. Zuhause gab es Würstchen mit Stampfkartoffeln und Sauerkraut. Keines der Kinder wusste woher die Muttel dies alles gezaubert hatte. Die Lichter am Tannenbaum wurden angezündet, ein paar selbstgestrickte Sachen und selbstgebackene Pfefferkuchen lagen unter dem Weihnachtsbaum. Da klopfte es an der Tür. Ängstlich öffnete die Großmutter. Davor stand die polnische Familie und wurde hereingebeten. Man wollte als Nachbarn

einmal sehen, wie so ein Weihnachtsbaum am Heiligabend aussah, und wie man Weihnachten in Schlesien feiert. Sie brachten eine herrliche Gans als Festtagsbraten, verschiedene Fleisch- und Wurstsorten und eine Schüssel Mohnklöße (schlesisch Mohklisla) mit. Das Rezept dazu hatte ihnen unsere Muttel verraten. Als nun die Kinder der Polen die hübschen Pullover bekamen, war die Freude groß. Am meisten aber hatte mein Großvater bei der Verarbeitung dieser Situation zu tun. Als Kriegsheld aus dem ersten Weltkrieg waren alle nichtdeutschen Menschen Feinde gewesen. Zwei Flaschen Wein aus einem Versteck von früher tauchten auf, und als der Großvater noch eine Flasche Cognac hervorkramte und der polnische Bauer eine Flasche Wodka, wurde der Abend noch sehr fröhlich. Bald gab es kaum noch Sprachprobleme, auch mit Hilfe der Oma. Noch ein kleiner Nebeneffekt war ,dass sich Horst und die gleichaltrige Polin Elena anfreundeten.  Beide waren zu dieser Zeit schon stolze 11 Jahre alt.

Welch Eine Weihnacht unter Menschen unmittelbar nach all den unvorstellbaren Ereignissen der Zeit war doch noch möglich. Tröstliche und gnadenreiche Zeit für jeden.

 

Horst Stoppe, Vöhl

 

 

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